3.2 Charaktere

Die bunte Mischung der vorgetragenen Charaktere prägt das gesamte Erscheinungsbild. Klassische Stereotype stehen Unikaten und Kunstfiguren gegenüber. Auch bei diesem Element beherrschen fernsehspezifische Motive die Szenen. Andererseits wurden eine ganze Reihe, meist grotesker Charaktere erfunden.

    3.2.1 Stereotype Charaktere

    Die Verwendung von Stereotypen birgt Vorteile für den Performer, der sich auf eine Figur konzentrieren, sie im Laufe der Zeit verfeinern und immer wieder variieren kann. Der Zuschauer schätzt den Wiedererkennungswert und so kommen die Charaktere ohne eine große Einführung aus, was entweder das Tempo der Handlung erhöhen oder die Aufführungsdauer verkürzen hilft. Sie tragen also zur Minimalisierung bei, ohne daß der Zuschauer etwas vermißt.

    Aristophanes, die Shakespeare-‘Clowns’ Tarlton und Kempe und ganz besonders die Commedia dell’Arte arbeiteten mit Stereotypen.(98) Mit dem Medium Film erkannte man die zeitsparenden und rezeptionsfreundlichen Aspekte und nutzte sie nicht nur in der Komödie, sondern v.a. in Billigproduktionen. Dem medialen Ableger des Films, dem Fernsehen mit seiner seriellen Grundstruktur paßten die stock charakters ins repetierende Konzept. (s. Abschn. 4.2.4)

    Gleichzeitig waren die Stereotypen der Trivialkunst schon immer Hauptangriffspunkt der Satire und Parodie, so daß ihr Einsatz vielfach rezipiert und somit "das Vorhandensein und nicht Vorhandensein von entsprechenden Stereotypen (...) nicht als Wertkriterium angesetzt"(99) werden kann.

    So auch bei MP; die allseits beliebten klassischen Zielgruppen, wie Militärs, Polizisten, Ärzte, Juristen, Verkäufer, Bürokraten, Politker, Geistliche, Wissenschaftler oder Manager u.a. werden in großer Zahl eingesetzt.

    All diesen Stereotypen ordnet der Rezipient bestimmte bekannte (stereotype) Eigenschaften zu. Diese werden in der Filmsemiotik auch Zeichen genannt. Das auf allgemein kultureller Basis fußende Zeichensystem(100) wird bei MP insofern benutzt, indem die gewohnten Zeichen durch andere, meist groteske und / oder parodierende ersetzt werden. Der Vorteil des dèjá-vu-Effekts erleichtert die Demontage der Figur, da auch hier die "nachhaltig subjektive Verankerung"(101) des Stereotypen in der Handlung und eventuell seiner stereotypen Umgebung eine (zeitraubende) Einführung überflüssig macht.

    Bei genauerer Betrachtung kann man vier verschiedene ‘Zeichenebenen’ unterscheiden. Als Beispiel wähle ich den Mediziner als Vertreter einer der Berufsgruppen aus denen die Pythons, in diesem Fall natürlich Graham Chapman, stammen:

    Die erste Ebene ist das Bild von einem Arzt, das gemeinhin in den Medien verbreitet wird, er heilt, ist gebildet, freundlich und verständnisvoll, verdient sehr gut und hat einen strengen Moralkodex. Auf der zweiten Zeichenebene, die ihm von Komödianten aller Sparten gegeben wurde, ist er ein Scharlatan, dümmer als man glaubt, schroff und abwesend und verdient viel zu viel, worunter auch die Moral leidet.

    Die dritte Ebene findet sich in zahlreichen MP-Sketchen. Ärzte üben Golfschläge während ein Patient verblutet und verlangen gleichzeitig das Ausfüllen komplizierter Fragebögen ("A Doctor whose Patients are Stabbed by his Nurse" 45). Andere ‘Götter in Weiß’ scheuchen ihre schwerkranken Patienten wie Spieße ihre Rekruten über den Hof und lassen sich ein Ferienheim von ihnen bauen ("Hospital run by RSM" 26). Hier ist die vorangegangene Ebene noch einmal überhöht, die schon parodierten Charakteristika werden ins Absurde verlängert und bis zum Tabubruch gesteigert. Die neu eingesetzten Zeichen - unterlassene Hilfeleistung und militärischer Drill - sind also verstärkte Ausgaben der traditionellen Komödie.

    Die vierte Ebene findet sich in Sketchen wie "Hospital for Overactors" (25), in dem die Patienten ausschließlich aus Theaterschauspielern bestehen, die wegen übertriebener Darstellung behandelt werden müssen.(102) Hier werden selbst die (gesteigert) parodierten Eigenschaften der Stereotypen, fast völlig entfernt; nur wenige, aber eindeutige und allgemein anerkannte Attribute, wie z.B. der Arztkittel, das Stethoskop, oder das Sprechzimmer, lassen noch den Arzt erkennen. Diese Substitution nennt Wilmut format-sketch. (s. Abschn. 4.2.1)

    Monty Python schaffen aber auch eine ganze Reihe neuer Stereotypen, die nur im Pythonschen Universum zuhause sind und erst durch ihr mehrmaliges Auftauchen in verschiedenen Folgen zu ebensolchen heranwachsen.(103) Gemeint sind neben den erwähnten Gumbys und Pepperpots (s. Abschn. 3.1.2.) v.a. die ‘talking heads’ der Fernsehwelt, wie der schleimige Entertainer, der faselnde Ansager, der geistig minderbemittelte Kandidat oder Talkshowgast, der sensationslüsterne Moderator oder der skrupellose Reporter.

    Sie werden bisweilen für ihre schwache oder enervierende Darbietung mit dem Slapstick ‘bestraft’ (s. Abschn. 3.4.1) und haben praktisch keine Vorläufer in der Komödiengeschichte. Ihre Vorbilder kommen direkt aus dem Fernsehalltag, in dem die realen Personen, die vor der Kamera agieren auch immer wieder zu sehen sind und so quasi-reale Stereotypen darstellen, da der Zuschauer sie anhand bekannter Zeichen wiedererkennen und einordnen kann. Erscheint z.B. das Gesicht des Nachrichtensprechers, weiß jeder sofort, daß jetzt die Nachrichten gesendet werden. Kommt ein gewisser Moderator ins Bild, verbindet man ihn sofort mit seiner Sendung. Die Darstellung der Moderatoren kann als postmoderner Zugang zur Kritik des Zuschauers verstanden werden. Besonders der Zwang zur Unterhaltung liegt im Kreuzfeuer dieser Kritik. "The man who..." ist im Grunde auch einer dieser neuen Stereotypen; in regelmäßigen Abständen werden Menschen mit scheinbar außergewöhnlichen Merkmalen vorgeführt.

    "The man who contradicts people" (22) oder "A man with three buttocks / A man with two Noses" (2) verbinden das Fernsehshow-Geschäft mit dem Jahrmarkt, wodurch die Glaubwürdigkeit des Moderators auf die eines Jahrmarktschreiers reduziert wird, die offensichtlichen Betrügereien verstärken diesen Vergleich. Es kann also festgestellt werden, daß einerseits neue Stereotypen kreiert, andererseits altbekannte neu aufgearbeitet wurden, wobei diese zwar rezipiert, dann aber karikiert und schließlich, sozusagen in einer letzten Phase vollständig demontiert werden. Die folgende Tabelle zeigt die Entwicklung der klassischen stereotypen Charaktere:

    Tabelle7

     

    3.2.2 Unikate und Kunstfiguren

Neben den Stereotypen fallen besonders die völlig neu geschaffenen Kunstfiguren und Unikate auf. Darunter fasse ich hier all jene Charaktere zusammen, die einerseits keinem bekannten Muster zuzuordnen sind, andererseits eigens für einen bestimmten Sketch ins Leben gerufen und auf ihn zugeschnitten wurden.

Ihr Erscheinen ist daher in den allermeisten Fällen einmalig, bisweilen können sie als Reminiszenz in der einen oder anderen Form wiederkehren, wie das Unikat "Raymond Luxury Yacht", der eine Plastik-Nase trägt und darauf besteht sein Name würde "Throatwobbler Mangrove" ausgesprochen ("Raymond Luxury Yacht Interview" 19 è "Cosmetic Surgery" 22). Ursprünglich sind die Unikate aber auf bestimmte Situationen zugeschnitten und erzeugen mit individuellen Motiven besondere Stimmungen.

Die ‘Nervensäge’ in "Nudge, Nudge" (3) ist ein sexuell verklemmter Charakter, der sein Gegenüber solange mit anzüglichen Andeutungen reizt bis dieser ihn auffordert, Klartext zu sprechen: (104)

Him (Jones): Look, are you insinuating something?

Norman (Idle): Oh...no...no...Yes.

Him: Well?

Norman: Well. I mean. Er, I mean. You’re a man of the world, aren’t you... I mean, er, you’ve, er...you’ve been there, haven’t you...I mean you’ve been around...eh?

Him: What do you mean?

Norman: Well I mean like you’ve er...you’ve done it...I mean like, you know... you’ve... er...you’ve slept...with a lady.

Him: Yes.

Norman: What’s it like?

Obschon in der dritten Folge geschaffen, wird dieses Unikat nicht mehr wiederverwendet. Es bleibt unverwechselbar mit diesem Sketch verbunden und drückt ihm seinen eigenen einzigartigen Stempel auf. (Nur manchmal kehren einmal geschaffene Charaktere wieder, dann aber lediglich in kurzen Einblendungen.)

Diese beiden Beispiele repräsentieren zugleich zwei verschiedene Formen von einzigartigen Charakteren. Während "Luxury Yacht" eine äußerst künstliche Form vorstellt, die an Groteske kaum zu überbieten ist und zudem eine eher anti-naturalistische Erscheinungsform ist, könnte "Norman" der Realität entsprungen sein. Tendenziell nehmen die Kunstfiguren im Verlauf der Serie zu, die naturalistischen Charaktere sind dagegen hauptsächlich in der ersten Staffel anzutreffen.

Zur ersten (anti-naturalistischen) Kategorie zählen z.B. "The Visitors" (9), "Mr.Atilla the Hun" (13), Die Kardinäle aus "The Spanish Inquisition" (15), der ‘Lehrer’ in den "Hitting on the Head lessons" (29), "0ur Eamonn" (31), "Biggles" aus "Biggles dictates a letter" (33), "The Cheap-Laughs" (35), oder der "Unexploded Sotsman" (38).

In der zweiten finden sich (fast) alltägliche Typen, wie der Schäfer aus "Flying Sheep" (2), der Konfekt-Produzent "Mr.Praline" aus "Crunchy Frog" (6), der Gast und die Bediensteten im "Dirty-Fork-Sketch" (3), der Kunde in "Dead Parrot" (8), der "Jokes and Novelties Salesman" (15), die Manager aus "Conquistador Coffee Campaign" (24), usw..

All diese Beispiele geben nur die ‘reine’ Form wieder. Der Tendenz vom Naturalismus zum Anti-Naturalismus folgend begegnen sich beide Formen ab der zweiten Staffel des öfteren. Der entstandene Kontrast erhöht das Groteske der jeweiligen Situation erheblich, wie im oben zitierten "Buying a bed"-Sketch (8), in dem ein ‘normaler’ Charakter auf einen äußerst artifiziellen Gegenspieler trifft (s. Abschn. 3.1.1). Oft sind es Charaktere des Alltags, die sich mit außergewöhnlichen Kunstfiguren auseinandersetzen müssen. Ihre Reaktion entspricht dem typisch britischen Understatement, sie spielen die Situation herunter und versuchen in stoischer Ruhe die Situation zu überstehen ohne aus der Rolle fallen zu müssen.

"Silly Disturbances" (36) ist wohl das schönste Beispiel für den Übergang, ja die Verschmelzung der beiden antagonistischen Charaktertypen. Ein sehr britisches, bourgoises, vernünftiges und zurückhaltendes Ehepaar trifft auf einen absolut enervierenden, verrückten und allerlei Unsinn veranstaltenden Vikar. Überraschenderweise ist dieses Ehepaar nicht angewidert, im Gegensatz zu einem ganz ähnlichen Paar, das von "The Visitors" (9) von einen Affront in den nächsten getrieben wird, sondern sie machen sich Art und Religion des Vikars zu eigen und verwandeln sich selbst in Kunstfiguren:(105)

(...) More silly Behaviour from the vicar. He and she look embarassed. Dissolve to them sitting at home smashing plates, making silly noises and covering themselves with shaving foam.

She (voice over): As it turned out our chance meeting Reverend Arthur Belling was to change our whole way of life, and every Sunday (film of them running into a church) we’d hurry along to St.Looney up the Cream Bun and Jam.

Hold shot of the church, Sound of a congregation standing. We here the silly noises.
 

 
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